Mein Vater

 

Kalman Hochzeit

In Kürze werde ich in dieser Rubrik, Briefe von meinem Vater Kálmán Drozdy (17.9.1904-6.9.1956) veröffentlichen, der als politisch Verfolgter gefoltert wurde und schliesslich fliehen konnte. Seine Erfahrungen und Betrachtungen sind ein Zeitdokument, das heute aktueller denn je ist.  Er war von Beruf Historiker und beobachtete wachsam das Zeitgeschehen, ob als Arbeiter in einer österreichischen Kohlengrube, als Obdachloser oder später in Australien begleitet von einer grossen Sehnsucht nach seiner Familie…..seiner geliebten Heimat…

Hier ein kleiner Einblick in die Nachkriegszeit…. Budapest, 30.12.1946 – Brief meines Vaters. 

(Meine Schwester Csilla war in dieser Zeit für 9 Monate bei Familie Henzi in Herzogenbuchsee meinen späteren Pflegeeltern.)

Liebe Pflegeeltern!

Leider sind meine Sprachkenntnisse so gering, dass die von mir verfassten Briefe von einem Kollegen übersetzt werden, welche ich dann auf der Maschine abschreibe.

Ich unterrichte Ungarisch und Geschichte, und nur am Anfang meiner Studien war ich im Stande, selbstständig einen deutschen Brief zu verfassen. Meine Fachstudien nehmen mich derart in Anspruch, dass ich die Deutsche Sprache verlernt habe.

Ich erwarte Ihre weiteren Briefe, welche mir so unendlich lieb sind, nicht nur weil sie Nachricht von meiner Tochter Csilla bringen, sondern weil sie von Menschen stammen, die im humanitären Sinne so unendlich hoch über den Sitten der heutigen allgemeinen Menschheit  stehen, dass sie Kinder fremder, unter schlechten Umstände leidender Nationen in Pflege nehmen. Wie ich aus Ihrem werten Briefe erfahre, findet schon das 7. Kind aus verschiedenen Ländern ein elterliches Heim in Ihrem lieblichen Haus, dort in weiter Ferne am Fuße der grossen Berge auch viele andere.

Uns erschien die Schweiz, während wir mit den Waffen, von unserem grausamen Schicksal in die Hände gedrückt gekämpft haben, als ein Märchenland, die grüne Insel des Friedens, wonach wir uns brennend sehnten. Uns Ungarn zog es stets nach dem kleinen Land auf den Bergen, wo die Völker frei leben, arbeiten und blühen können.

Aber wir Ungarn sind seit einem Jahrtausend dazu bestimmt, gegen die vielen Gesslers, die uns, auf unsere Ebenen eindrangen. Und weil unser Ahne Arpàd, der Landnehmer sich als vollkommenen Rassenfremde auf einem ungünstigen Gebiet niederliess, mussten wir uns gegen die Fressgier vieler Fremder wehren. Wir haben Europa dreimal gegen den des Ostens beschirmt, so konnten diese wilden Fluten von unserem Widerstand erschlafft, nicht mehr vom ungarischen Becken weiter nach Westen. Dieser Widerstand kostete uns, dass wir durch zwei Jahrhunderte Schlachtfeld waren.

Doch haben wir uns erhoben und entwickelt, aber es wurde uns nicht ermöglicht, unser Paris, London oder Rom zu erbauen. Kaum war eine Stadt gebaut, wurde sie, bald von den Tartaren, bald von den Türken zerstört, aber unser Traum, endgültig neu zu bauen, liess der österreichische Nachbar und der habsburgische Neid nicht zu.

Auch heute sind wir die größten Sündiger von Europa, weil wir unseren Nachbarn im Wege stehen und sie nähren die von ihnen begangenen Unmenschlichkeiten mit Mordtaten, Räubereien in unseren Nacken. Unser Land ist jetzt vollkommen ausgeplündert und wir müssen, unsere Hände geballt, um unsere Kinder zu retten, uns von ihnen trennen lassen.

Wenn unser Leiter, die heutigen ungarischen Gessler, nur einwenig gescheiter gewesen wären, könnten wir heute die verelendeten Kinder Europas bei uns aufnehmen. Unser Traum war schon lange, hier in Osteuropa nach Ihrem Muster eine östliche Schweiz zu bilden, aber über Studien, Planungen und Artikel kam es nie weiter.

Vielleicht unsere Kinder… ? ! Darum ersuche ich meinen lieben Kollegen, meinem Kinde so viel schweizerischen Geist beizubringen als es bei ihrem Alter nur möglich ist. Sie ist jetzt ein Kind, aber der verstreute Samen geht vielleicht später auf.

Da unsere Schulen, die meisten in Ruinen liegen, müssen wir längere Ferien halten. Unsere Schulhäuser sind halbwegs offen, wir haben eine Zentralheizung, aber für das Freie wollen wir doch nicht heizen. Die wenigen Öfen genügen uns, von den 21 Lehrsälen zwei zu gebrauchen. Das Gymnasium ist zwei Stock hoch. Die Mauern sind zerspalten und der beschränkte Unterricht geht unter ständiger Lebensgefahr für Lehrer und Kinder weiter.

Im Winter sitzen Kinder und Lehrer im Lehrsaal mit Wintermantel und Hut. Da können Sie, mein Kollege Ihre Fantasie in Bewegung setzten. Unser Gehalt ist kaum genug zum bloßen Lebensunterhalt! Über uns Pädagogen hat man auch vormals, aber auch jetzt vergessen. Aber wir halten Stand. Wir erziehen, lehren unsere Kinder für das künftige glückliche Ungarn, und Europa. Der unmenschlichste Kampf ward uns zuteil während Jahrhunderten. Wir haben uns daran gewöhnt, an diesen Kampf für den Westen, welcher nun jetzt in Paris gegen uns so undankbar erwiesen hat.

Es ist mir gut bekommen, jemandem mein Herz auszuschütten, besonders Ihnen, der  mir so warme, herzliche Briefe schreibt.

Ich wünsche Ihnen und Ihrer Gemahlin ein recht glückliches Neujahr.

Kalman Drozdy