3. Oktober – Reichtum

Aus dem Tolstoi Kalender der Weisheit – 3. Oktober – Reichtum

Reichtum   Bescheidenheit

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Es gibt zwei Möglichkeiten, nicht unter Armut zu leiden. Die erste ist, mehr Reichtum zu erwerben. Die zweite, deine Bedürfnisse einzuschränken. Erstere ist uns nicht immer verfügbar, letztere aber steht uns immer offen. Tolstoi

Grosse Reichtümer werden dich nicht befriedigen. Je grösser dein Reichtum wird, desto mehr wachsen auch deine Bedürfnisse. Tolstoi

Seltsam genug 
Ein Mensch erlebt den krassen Fall,
Es menschelt deutlich, überall –
Und trotzdem merkt man, weit und breit
Oft nicht die Spur von Menschlichkeit. Eugen Roth          

Ein Gespräch über Bildung    –   «Lasst es mich probieren!» Aus:  Papierlose Zeitung – Bildung für alle – Malek Ossi, 28, (aus Syrien) ist Aktivist bei der ASZ und studiert an der Hochschule Luzern Soziale Arbeit. Im Interview erzählt er, was Bildung für ihn bedeutet. 16. August 2021

Katharina Morello: Wo, denkst du, hast du die wichtigsten Dinge fürs Leben gelernt? Malek Ossi: Was ich früher in der Schule gelernt habe, habe ich vergessen. Ich lernte für die Prüfungen, schrieb es nieder, dann war es weg. Was mich wirklich geprägt hat, war mein Zuhause. Meine Eltern waren meine ersten Lehrer. Die wichtigen Sachen lernt man in der Familie: respektvoll mit anderen umgehen, zuhören, geduldig sein, eine Aufgabe übernehmen und Unterstützung holen, wenn man ihr vielleicht nicht gewachsen ist. Auch die Strasse, in der ich aufgewachsen bin, war für mich eine Schule. Und wenn wir Bezug auf die Schweiz nehmen: Hier ist auch mein Freundeskreis eine Schule. Durch Freund*innen habe ich viel gelernt.

Schulbildung ist aber dennoch wichtig …
Natürlich. Bei mir zuhause in Syrien hörte ich immer: Ihr müsst euch bilden! Nur durch Bildung kommt ihr im Leben weiter. Meine Eltern konnten keine höhere Schule besuchen.

Hier höre ich dasselbe. Migrant*innen sagen zu ihren Kindern oder kleineren Geschwistern: Hey, schau mich an, wenn ich eine Ausbildung gemacht hätte, müsste ich nun am Wochenende nicht arbeiten. Schau mich an, dann verstehst du, was der richtige Weg ist. Dieser Weg ist vielleicht schwieriger und dauert länger, aber langfristig ist er viel besser, als irgendwo ohne Abschluss arbeiten zu gehen. Viele Migrant*innen, die vor mir in die Schweiz kamen, haben mir diesen Rat gegeben: Geh studieren, mach eine Ausbildung, weil du hier in der Schweiz ohne Ausbildung überhaupt keine Chance hast. Du wirst einen Job finden, doch irgendwann bei einer Krise – wie jetzt während Corona – wirst du ihn wieder verlieren und dann vielleicht nie wieder etwas finden. Dies zeigt, warum Bildung so wichtig ist.

Die Idee, dass jeder Mensch die Schule besuchen und sich bilden kann, ist ja auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert.

Genau. Menschen haben ein Recht auf Bildung! Es ist ein Grundbedürfnis. Man darf Menschen nicht davon abhalten, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Es gibt aber Menschen, die hier in der Schweiz leben, als vorläufig Aufgenommene und Nichtregulierte ohne Aufenthaltsbewilligung – ihnen wird dieses Recht genommen. Sie können sich nicht ausbilden oder weiterbilden. Dieses Grundrecht, das allen Menschen zusteht, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht … es wird ihnen verwehrt, weil sie keine oder nicht die richtige Aufenthaltsbewilligung haben.

Du hast diese Erfahrung als geflüchteter Mensch in der Schweiz selbst gemacht. Was müsste sich ändern?
Bildung soll allen Menschen zur Wahl stehen. Wer studieren will, kann studieren. Menschen, die keine Aufenthaltsbewilligung haben, sind trotzdem hier. Es geht um das Thema Integration, ich sage lieber: Inklusion. Dies bedeutet, wir sind da. Ob man uns will oder nicht: Wir sind da. Die Potentiale, die Menschen mitbringen, sollen genutzt werden können. Man soll sie nicht verschwinden lassen. Es gibt auch das Recht auf Nothilfe. Und Bildung ist für mich wie Wasser und Nahrung: ein Existenzrecht. Wenn ich auch sonst meine anderen Rechte nicht ausüben kann, muss ich wenigstens studieren oder eine Ausbildung machen können. Das steht mir zu. Unabhängig von Status oder Herkunft oder Hautfarbe.

Bildung ist für mich wie Wasser und Nahrung: ein Existenzrecht.

Ein Geflüchteter, eine Geflüchtete soll sich auf jeden Fall aus- oder weiterbilden können? Was ist, wenn er oder sie ihre Möglichkeiten überschätzt?
Bevor ich mein Studium anfing, habe ich immer wieder die Aussage gehört: Vielleicht ist es zu schwierig. Darauf habe ich entgegnet: Lasst es mich probieren! Ich kann entscheiden, ob ich mir das zutraue oder nicht. Und wenn es zu schwierig sein sollte, kann ich selber entscheiden, ob ich aufhöre. Wie alle Schweizer*innen oder Ausländer*innen aus EU-Staaten … Sie kommen und studieren, und wenn sie merken, dass es nicht geht, hören sie auf. Das gilt auch für mich: Wenn ich merke, dass mir das Studium nicht entspricht oder dass es mir keinen Spass macht, kann ich etwas anderes machen.

Du hast nun mit dem Studium angefangen. Wie läuft es für dich?
Es ist nicht einfach. Ich bin in einem anderen Bildungssystem aufgewachsen. Da galt: Sag nur, was wir hören wollen! Selber Denken war mehr oder weniger verboten. Hier ist es komplett anders. Man muss sich viele Gedanken machen. Man muss selbst für Disziplin sorgen, viel Selbststudium betreiben. Und man soll kritisch sein … Mein Gott, Kritik war ein Tabu in Syrien! Und hier ist es sogar erwünscht, sich kritisch zu äussern … Das sind die Schwierigkeiten, mit denen ich im Studium zu kämpfen habe. Dazu kommt die Sprache, es ist nicht meine Muttersprache. Ich brauche für alles mehr Zeit als meine Schweizer Kolleg*innen. Vor allem, wenn es darum geht, eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben. Doch ich möchte andere Menschen in meiner Situation ermutigen, studieren zu gehen.

Wie könnte man es einfacher machen für Menschen aus anderen Bildungssystemen?
Die Lehrer und Lehrerinnen könnten klar sagen, was sie von dir wollen. (Lacht!) Aber das ist eine schwierige Frage. Es würde bedeuten, ein ganzes System zu ändern und anzupassen. Wenn ich könnte, würde ich die Noten abschaffen. Ich finde sie bescheuert.

Die Noten? Warum?
Bestanden. Nicht bestanden. Das setzt Menschen einfach zu sehr unter Druck. Es schafft ein Konkurrenzdenken. Ich bin besser als du. Du bist schlechter als ich. Das könnte man vermeiden.

Wenn ich könnte, würde ich die Noten abschaffen.

Wahrscheinlich ist das die Realität hier: Wenn du neu dazukommst, wirst du nicht das System ändern, sondern dich zuerst nach dem System richten.
Vielleicht kannst du es im Nachhinein ändern. Wenn du etwas gelernt hast, kannst du hinterher fachlich begründen, warum ein System geändert werden muss. Man muss zuerst eine Schule besuchen und einen Abschluss machen, und danach kann man sich für Veränderungen einsetzen. Man muss sich erst das nötige Wissen aneignen, um hinterher begründen zu können, warum man etwas kritisch hinterfragt. Durch Gespräche und Austausch lernen wir viel. Bildung ist für mich ein Lernprozess. Wenn wir uns etwa die ASZ anschauen: Vor zehn Jahren war sie noch nicht das, was sie heute ist. Mit der Zeit hat sich die Schule zu dem entwickelt, wofür sie heute steht. Das könnte auch mit dem System so sein, irgendwann wird es sich ändern.

An einem Ort wie der ASZ zeigt sich, was durch gemeinsames Lernen möglich ist. Lernen ist keine Einbahnstrasse. Alle, die dazukommen, müssen sich nicht einfach nur anpassen. Sie sind Träger*innen von Wissen, Geschichten und Erfahrungen und haben etwas einzubringen.
Genau. Und die Menschen sollen Möglichkeiten haben, auszuprobieren, was sie können und was sie wollen. Sie sollten schnuppern gehen und reinschauen können bei allen Arten von Ausbildungen.

Wie beurteilst du die Anforderungen, die für die Aufnahme zu einem Hochschulstudium gestellt werden?
Als ich anfing, war das Sprachniveau C2 verlangt. Ich vermute, dass viele meiner Mitstudierenden, sogar Schweizer*innen, die hier geboren sind, das Niveau C2 nicht hatten, als sie anfingen. Von mir zu verlangen, dass ich ein Zeugnis für C2 vorlege, war eine Zumutung. Meine anfänglichen Schwierigkeiten hingen nicht von C1 oder C2 ab. Ich brauchte Zeit, um anzukommen – und zum Glück habe ich diese Zeit bekommen. Doch die Voraussetzungen, um überhaupt anfangen zu können, waren zu hoch. Zum Glück wurde das jetzt angepasst. Es war auch etwas absurd: Die Hochschule verkauft sich mit dem Prinzip von Diversität und Vielfalt auf der einen Seite, und andererseits stellt sie so hohe Hürden auf, die Migrant*innen fast unmöglich erfüllen können. Das sollte überall einfacher werden. Es geht dabei nicht nur um die Sprache, es geht auch um die Anerkennung von Diplomen. So viele Menschen müssen hier einen anderen Beruf ausüben als in ihrer Heimat. Wir sprechen von Ärzt*innen, die hier als Reinigungskraft arbeiten. Reinigungsarbeit ist nichts Schlechtes. Doch diese Menschen haben in ihrer Heimat das Beste aus ihren Möglichkeiten gemacht. Dann kamen sie hierher und müssen eine Arbeit verrichten, für die sie viel weniger Anerkennung und viel weniger Geld bekommen. Für viele ist das sehr schmerzhaft. Es ist ein Ausdruck für den strukturellen Rassismus, den wir in der Schweiz haben.

Das Ziel ist, dass alle ihr Potential ausschöpfen können.

Das ist wahr. Ich habe viele Migrant*innen getroffen, deren Diplom in keiner Weise akzeptiert wurde. Sie mussten wieder bei Null anfangen.
Nicht nur bei Null, sie fangen hier sogar bei minus Eins an, weil oft nicht einmal ihre Matura anerkannt ist. Dieses Problem ist omnipräsent. Alle leiden darunter, dass ihre Diplome nicht anerkannt werden. Menschen sind in die Schweiz geflüchtet, sie haben Physik studiert oder Chemie oder sie sind Ärzt*innen. Trotzdem sind sie ohne Perspektive. Alles, was sie in ihrem Leben gemacht haben, ist wertlos geworden. Es war alles umsonst. Wie wäre es für dich, wenn man sagen würde, deine Matura ist nichts wert, du musst sie nachholen?

Wie soll es in Zukunft sein?
Mein Traum ist es, dass so viele geflüchtete Menschen wie möglich eine Ausbildung machen und studieren gehen können. Und dass sie dann eine gute Arbeit machen können, genauso wie Einheimische. Das Ziel ist, dass alle ihr Potential ausschöpfen können.

Noch eine Frage: Was hast du eigentlich bei dir zuhause auf der Strasse gelernt?
Das Wichtigste, was ich da gelernt habe, ist Zivilcourage. Davon gibt es hier nicht so viel. Zum Beispiel interessiert es hier niemanden, wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe ständig kontrolliert werden, wenn also racial profiling stattfindet. Auf der Strasse habe ich gelernt, mit anderen Menschen solidarisch zu sein. Man muss diese Solidarität auch aktiv zeigen.

Es nützt nichts, wenn du sie nur im Kopf hast. Dann bringt sie niemandem etwas.

Das Interview führte Katharina Morello

 

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