10. August – Die Gegenwart

 Aus dem Tolstoi Kalender der Weisheit – 10. August – Die Gegenwart

Freiheit    Gegenwart    Gottes Gesetz

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Sich auf das Leben vorzubereiten, statt zu leben, ist eine äußerst gefährliche Versuchung. Die Zukunft gehört dir nicht. Vergiss daher nicht, jetzt so gut zu leben, wie du kannst. Die einzige dazu erforderliche Vollkommenheit ist die, vollkommen zu lieben, und das kannst du nur in der Gegenwart. Dazu sind wir in die Welt gekommen. Tolstoi

Du triffst Entscheidungen in der Gegenwart, und die Gegenwart ist außerhalb der Zeit; sie ist ein winziger Augenblick, in dem sich zwei Zeiten – Vergangenheit und Zukunft – begegnen. In der Gegenwart hast du immer Entscheidungsfreiheit. Tolstoi

Die Gegenwart ist der Augenblick, in dem sich die Göttlichkeit des Lebens offenbart. Achten wir also unsere Gegenwart. Gott weilt in dieser Zeit. 

Des Mystikers Sicht: In der Welten der Existenz ist der Mensch dual: das wahre Selbst und das kleine Selbst. Dualität ist das Gesetz aller Welten der Existenz. Ein Teil des wahren Geist-Seelen-Ego-Selbst des Menschen gibt dem kleinen Selbst Leben, bleibt aber unauffällig latent in ihm, während das kleine Selbst sich stetig verändert in seinem Benehmen, seinem Charakter und Lebensweise. Joshua

butterfly-1228639__180Die drei Fragen  – von Leo Tolstoi

Es dachte einmal ein König, nichts könne ihm missglücken, wenn er nur immer die Zeit wüsste, in der er ein Werk zu beginnen habe, und wenn er immer wüsste, mit welchen Menschen er sich einlassen solle und mit welchen nicht, und wenn er immer wüsste, welches von allen Werken das wichtigste sei.

Es kamen gelehrte Männer zum König und gaben ihm mancherlei Antworten auf seine Fragen.

Aufs eine erste Frage antworteten die einen, um für jedes Werk die rechte Zeit zu wissen, müsse man vorher eine Einteilung für den Tag, den Monat und das Jahr aufstellen und sich streng an das halten, was für den einzelnen Tag festgesetzt ist. Andere sagten wieder anderes.

Ebenso verschieden lautete die Antwort auf die zweite Frage. Die einen sagten, die dem König unentbehrlichsten Männer seien die Staatsmänner, andere, die Priester und Seher. Die dritten erklärten, es seien die Ärzte, und die vierten behaupteten, es seien die Krieger.

Auf die dritte Frage, welches das wichtigste Werk sei, antworteten die einen, das sei die Wissenschaft, die anderen sprachen, die Kriegskunst, wieder andere nannte die Gottesverehrung. Alle Antworten waren verschieden.

Daher passte dem König keine einzige von ihnen, und er belohnte niemand. Um aber ganz genaue Antworten auf seine Fragen zu erhalten, entschloss er sich, einen Einsiedler zu befragen, dessen Weisheit in großem Rufe stand. Der Einsiedler lebte im Wald, verließ seine Wohnstätte nie und empfing nur einfache Leute. Darum zog der König ein schlichtes Gewand an, stieg vom Pferd weit vor der Klause des Einsiedlers, ließ sein Gefolge zurück und ging allein durch den Wald. Als der König sich dem Einsiedler näherte, grub dieser vor seiner Hütte die Beete um. Er erblickte den König, begrüßte ihn und grub ruhig weiter. Er war mager und schwach und keuchte schwer, indem er den Spaten in die Erde stieß und die kleinen Schollen umwandte. Der König trat an ihn heran und sprach: »Ich bin gekommen, weiser Einsiedler, um dich zu bitten, mir drei Fragen zu beantworten: Welches ist die Zeit, die man einhalten muss und nicht versäumen darf, um hinterher nichts bereuen zu müssen? Welche Leute sind die unentbehrlichsten? Mit welchen Leuten muss man sich als mehr, mit welchen weniger befassen? … Welche Werke sind die wichtigsten, und welches von allen Werken muss daher zuerst getan werden?«

Der Einsiedler hörte dem König zu, antwortete aber nicht. Er spuckte in die Hände und begann wieder zu arbeiten. »Du bist erschöpft«, sagte der König, »gib mir den Spaten, und setze dich auf die Erde.«

»Danke«, erwiderte der Einsiedler, reichte dem König den Spaten und setzte sich auf die Erde nieder. Als der König zwei Beete umgegraben hatte, hielt er inne und wiederholte seine Fragen. Der Einsiedler antwortete nicht, stand auf und streckte die Hände nach dem Spaten aus. »Jetzt ruhe du, ich will nun …« sagte er. Der König aber gab den Spaten nicht her und fuhr fort zu graben. Es verging eine Stunde, eine zweite, die Sonne begann hinter den Bäumen zu verschwinden, da steckte der König den Spaten in die Erde und sagte: »Ich bin zu dir gekommen, weiser Mann, um auf meine Fragen eine Antwort zu erhalten. Wenn du nicht antworten kannst, so sag es doch, dann will ich nach Hause gehen.«

»Sieh einmal, da kommt jemand gelaufen«, sprach der Einsiedler, »lass sehen, wer das ist.« Der König sah, dass in der Tat aus dem Walde ein bärtiger Mann gelaufen kam. Der hielt sich die Hände vor den Leib, und zwischen den Fingern sickerte Blut hervor. Als er bis zum König gelangt war, fiel er zu Boden, lag unbeweglich da und ächzte leise. Der König und der Einsiedler öffneten die Kleider des Mannes. In seinem Leib war eine tiefe Wunde. Der König wusch sie, so gut er konnte, und verband sie mit seinem Taschentuch und mit einem Handtuch des Einsiedlers. Aber das Blut hörte nicht auf zu strömen, und der König nahm zu wiederholten Malen den mit warmen Blut durchtränkten Verband ab, wusch die Wunde von neuem und verband sie wieder. Als das Blut endlich gestillt war, bat der Verwundete um Wasser. Der König trug frisches Wasser herbei und gab ihm zu trinken.

Inzwischen war die Sonne untergegangen, und es war kühl geworden. Mit Hilfe des Einsiedlers trug der König den Verwundeten in die Klause und legte ihn aufs Bett. Der Verwundete schloss die Augen und wurde still. Der König aber war so ermüdet, dass er, auf der Schwelle zusammengekauert, ebenfalls einschlief, und zwar so fest, dass er die ganze kurze Sommernacht verschlief.

Als er am Morgen erwachte, konnte er lange nicht begreifen, wo er war und wer dieser sonderbare bärtige Mann war, der auf dem Lager ausgestreckt lag und ihn unausgesetzt mit leuchtenden Augen ansah. »Verzeih mir«, sprach der bärtige Mann mit schwacher Stimme, als er bemerkte, dass der König erwacht war und ihn anblickte. »Ich kenne dich nicht und habe dir nichts zu verzeihen«, erwiderte der König. »Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Ich bin dein Feind, jener Feind, der geschworen hat, an dir Rache zu nehmen, weil du meinen Bruder hingerichtet und meine Güter genommen hast. Ich habe dich töten wollen, und du hast mir das Leben gerettet. Von nun an, wenn ich am Leben bleibe, und wenn es dir recht ist, will ich dir als dein treuester Gefolgsmann dienen, und auch meinen Söhnen will ich das zu tun befehlen. Verzeihe mir!«

Der König war sehr froh darüber, dass es ihm so leicht gelungen war, sich mit seinem Feinde auszusöhnen, und er verzieh ihm nicht nur, sondern versprach auch, ihm seine Güter zurückzugeben und ihm außerdem seine Diener und seinen Arzt zu schicken.

Als er sich von dem Verwundeten verabschiedet hatte, trat der König hinaus auf die Vortreppe und suchte mit seinen Augen den Einsiedler. Er war draußen bei den Beeten, die er gestern umgegraben hatte, kniete am Boden und säte Gemüsesamen. Der König trat an ihn heran und sprach: »Zum letzten Mal, du weiser Mann, bitte ich dich, meine Fragen zu beantworten!« »Aber du hast ja deine Antwort schon bekommen!« erwiderte der Einsiedler. Er richtete sich auf und sah den König an. »Ich sollte Antwort bekommen haben?« fragte der König. »Natürlich«, erwiderte der Einsiedler. »Hättest du gestern nicht Mitleid mit meiner Schwachheit gehabt und diese Beete umgegraben, sondern wärst du allein zurückgegangen, so hätte dieser Mann dich überfallen, und du hättest bereut, dass du nicht bei mir geblieben bist. Somit war die richtige Zeit jene, als du die Beete umgrubst, und ich war der wichtigste Mann, und das wichtigste Werk war, mir Gutes zu tun. Dann, als jener Mann angelaufen kam, war die wichtigste Zeit, seiner zu pflegen, denn sonst wäre er verblutet, ohne dass er sich mit dir versöhnt hätte. Er war für dich der wichtigste Mensch, und das, was du ihm getan hast, war das wichtigste Werk.«

Merke dir – die wichtigste Zeit ist nur eine: der AUGENBLICK. Nur über ihn haben wir Gewalt. Der unentbehrlichste Mensch ist der, mit dem uns der Augenblick zusammenführt; denn niemand kann wissen, ob er noch je mit einem anderen zu tun haben wird. Das wichtigste Werk ist, ihm Gutes zu erweisen – denn nur dazu ward der Mensch ins Leben gesandt.

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