Menschlichkeit

Freiheit     Gewissen

Aus  „DIE WELT“  4‎. ‎Sep‎. ‎2015 von Lukas Bärfuss

Wer Flüchtlinge zurückweist, geht mit ihnen unter.

Menschlichkeit und gesunder Menschenverstand: Die Freiheit, nach seinem eigenen Glück zu streben, ist einer der zentralen Werte unserer Gesellschaft. Ein Plädoyer für eine neue Weltinnenpolitik.

In diesen Tagen solidarisieren sich viele Menschen in Europa mit den syrischen Flüchtlingen. Sie verstehen, dass jede geglückte Flucht eine Rettung bedeutet. Wer sich aufmacht, um Not und Unterdrückung zu entkommen, ist ein Held wie jeder, der ihm die Gastfreundschaft gewährt und hilft, ein besseres Leben aufzubauen.

Dies ist eine Erfahrung jenseits der persönlichen Meinung oder der politischen Weltanschauung. Es ist ein Wert, von dem unsere Kultur seit ihren Anfängen erzählt, in vielfältiger Weise.

Im verbindlichen Text für fast vier Milliarden Christen, Muslime und Juden, ist die Flucht sogar mit dem göttlichen Heilsplan verbunden. In der Genesis segnet Gott seinen Diener Abram und fordert ihn gleichzeitig auf, die Heimat zu verlassen. Später muss das Volk Israels aus Ägypten ziehen, um das Gelobte Land zu erreichen. Und für die Christen wurde ein Messias geboren, der sein Leben als Flüchtling vor den Häschern des Herodes begann.

Wo wäre die Schweiz ohne die deutschen Flüchtlinge?

Man muss nicht religiös sein, um diese Lektion zu begreifen. Auch in der weltlichen Literatur ist die Rettung durch Flucht ein wiederkehrendes Motiv. Der deutsche Roman erlebt einen frühen Höhepunkt mit einem Flüchtling. Grimmelshausens Simplicissimus flieht vor der mordenden Soldateska des Dreißigjährigen Kriegs. Und die Filme, die Hollywood rund um die Flucht produziert hat, sind ungezählt.

map-of-the-world-1005413__180Migration ist ein komplexes Phänomen und noch ungenügend erforscht. Sicher aber ist sie eine biografische und historische Konstante. Eine Minderheit stirbt an ihrem Geburtsort, und die Geschichte kann auch erzählt werden anhand dieser Wanderungsbewegungen. So sorgten etwa die französischen Religionsflüchtlinge des 17. Jahrhunderts durch ihre Bildung und ihr technologisches Know-how an vielen Orten für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Und während im 19. Jahrhundert politische Flüchtlinge aus den deutschen Staaten den hervorragenden Ruf der schweizerischen Universitäten etablierten, verließen Familien die Alpentäler, um in Südamerika, den Vereinigten Staaten und in Russland eine bessere Zukunft aufzubauen. Die norddeutschen Bäcker in Holland, die italienischen Bauarbeiter, die Rentner in Südspanien – alles Flüchtlinge. Und die Filme, die Hollywood rund um die Flucht produziert hat, sind ungezählt.

Die Migrationspolitik der europäischen Staaten verstand sich seit dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie als Schutz des eigenen Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme. Das ist der wahre Grund für die Kategorien, in die man die Menschen nach ihren Fluchtgründen einteilt. Es sind Kriterien, um das Recht auf Flucht auf gewisse Gruppen zu beschränken. Doch dieses Recht folgt aus dem Naturrecht, aus jenen Rechten also, die jedem Menschen mit der Geburt zufallen und unveräußerlich sind.

Die freiheitlichen Verfassungen schützen dieses Recht explizit. Die Fluchtgründe sind dabei zweitrangig. Prioritär ist das Recht jedes Menschen, seinem Schicksal zu entkommen und mit Fleiß und Anstrengung eine bessere Zukunft zu erschaffen. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Modell für alle nachfolgenden Verfassungstexte, formuliert es so endgültig wie elegant: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“

Die Freiheit, nach seinem eigenen Glück zu streben, ist einer der zentralen Werte unserer Gesellschaft. Fußballspieler, Showstars und Wirtschaftskapitäne, die wir für ihre Tellerwäscherkarrieren bewundern – sie alle erzählen Fluchtgeschichten.

Auch wo Menschen keine Rechte haben, gibt es Facebook.

Jeder Migration geht ein Leiden oder zumindest eine Unzufriedenheit voraus: Krieg, Naturkatastrophen, Armut. Und jede Flucht verursacht selber Leiden. Bei jenen, die auswandern, wie bei den Eingesessenen. Aber wenn zu bleiben Tod und Untergang bedeutet und Hoffnung auf Rettung besteht, wird dieses Leiden nebensächlich. Wie meint doch der weise Esel in den „Bremer Stadtmusikanten“ der Gebrüder Grimm zur verzagten Katze? „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“

Diese Hoffnung ist unerschütterlich. Menschen werden sich niemals mit einem Leben begnügen, das keine Perspektive bietet. Sie lassen sich von nichts aufhalten. Weder von natürlichen noch von administrativen Grenzen.

Die Menschen, die in Kühltransportern ersticken und im Mittelmeer ertrinken, sind letztlich Opfer dieser administrativen Grenzen. Ihnen fehlten die verlangten Papiere für eine ordentliche Einreise. Und erst diese Grenzen schaffen die Grundlage für das Schlepperwesen.

Die territoriale Hoheit wird immer noch durchgesetzt, kulturell hingegen haben sich die Grenzen längst aufgelöst. Es gibt keinen Frieden in Syrien. Aber es gibt YouTube. In Eritrea gibt es keine Menschenrechte, aber es gibt Facebook und Instagram. Weltweit schauen Menschen die gleichen Clips, sie lesen dieselben Blogs, sie hören dieselben Gesänge vom Aufstieg durch Anstrengung. Warum sollten sie glauben, dass jene Botschaft nicht auch an sie gerichtet ist?

Unsere Gesellschaft verfügt über drei Strategien, um mit der Migration umzugehen. Zunächst kann man versuchen, den Fluchtimpuls zu verringern. Das kann nur geschehen, wenn das Gefälle zwischen den Herkunfts- und den Fluchtländern geringer wird. Erst ausgeglichene Lebensverhältnisse machen eine Flucht unnötig.

Bis dahin, und das ist die zweite Strategie, müssen die Flüchtlinge aufgenommen und integriert werden. Einige werden nach einer gewissen Zeit zurückkehren. Andere werden länger, die dritten schließlich ihr Leben lang hier bleiben.

Diese Strategien ergänzen sich. Die Herausforderungen, die sie an unsere Gesellschaft stellen, sind gewaltig. Kein Land ist stark genug, um diese Aufgaben alleine zu bewältigen. Es braucht transnationale Kooperationen. Und selbst das wird nicht reichen, denn an der Verwirklichung einer gerechteren, auf Ausgleich bedachten internationalen Ordnung werden Generation arbeiten müssen.

Das sollte uns nicht schrecken. Im Gegenteil. Große Aufgaben beinhalten große Chancen. Nicht alleine die Ziele sind erstrebenswert. Ebenso wichtig ist der Prozess, in den wir damit eintreten. Gesellschaften werden stark durch verbindliche Werte. Erst mit ihnen werden Menschen willens und fähig, miteinander zu kooperieren. Und nur so sind sie bereit, für einen langfristigen Nutzen kurzfristige Zumutungen in Kauf zu nehmen.

Genau dieser Wertemangel lässt die europäischen Gesellschaften sklerotisch erscheinen. Hier, in einer Migrationspolitik für das 21. Jahrhundert, liegt die Chance, um der Politik das zu verschaffen, was eine Gesellschaft weiterbringt: Perspektiven, innere Kohärenz und dadurch Legitimität und Dynamik.

Die DDR war mit dem Mauerbau am Ende.

Der Anfang wäre gemacht. Die Instrumente für eine Weltinnenpolitik sind entwickelt. Eine internationale Unternehmenshaftpflicht, die Tobin-Steuer – all dies sollte jetzt in konkrete Politik umgesetzt werden. Es wäre gar nicht so schwierig. Die Politiker müssten bloß einmal nicht an die nächsten, sondern an die übernächsten Wahlen denken. Sie müssten ihre Wähler mit einigen unangenehmen Tatsachen konfrontieren, anstatt die politische Sphäre weiter auszutrocknen. Aber leider wird viel zu häufig der dritten und letzten Strategie der Vorzug gegeben.

Sie heißt Abschottung und ist gleichbedeutend mit Untergang. Nicht nur der Flüchtlinge, sondern von uns selbst.

Die Lektionen der Geschichte sind selten eindeutig. Aber in einer Sache spricht sie klar: Wer zum Schutz der eigenen Vorteile Mauern baut, hat das Ende seiner Entwicklung erreicht. Das Schicksal der DDR war im Jahr 1961 besiegelt. Mit dem Bau der Mauer wurde klar, dass die stalinistische Diktatur jede innere Rechtfertigung verloren hatte. Doch jede Mauer, so hoch sie auch sein mag, wird eines Tages eingerissen werden. Und mit den Steinen fallen auch jene, die sie errichtet haben.

Eine moderne, kooperative und internationale Migrationspolitik, die mehr ist als ein Mittel, um den eigenen Arbeitsmarkt zu schützen, ist nicht einfach ein Gebot der Menschlichkeit. Sie ist vernünftig, weil sie eine Konsequenz der Werte ist, die unsere Gesellschaft erfolgreich gemacht haben. Mit ihrer Flucht und mit ihrer Solidarität zeigen die Menschen auf beiden Seiten der Grenzen, dass sie gemeinsame Werte und Interesse haben und bereit sind, kurzfristige Zumutungen in Kauf zu nehmen, wenn die langfristigen Perspektiven Erfolg versprechen.