15. Kapitel: Eine Entführung und eine Heirat

Joshua sieht Unheil auf Distanz. Der Gott-Mensch bringt ein Schaf Namens Akhiezer zur Herde zurück. Die Heilung des Gastwirts Barukh

Denn der Menschensohn ist gekommen, das verlorene zu suchen und zu retten. (Lukas 19:10) Ich bin der gute Hirt und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, ebenso wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben für die Schafe hin. (Johannes 10:14-15)

An eine Nachmittag, im Dankgottesdienst im Tempel, dehnte Joshua sein Selbst-Bewusstsein aus und sah einen Vorfall in Khorazin fünf Meilen nördlich von K’far Nahum. Als El Shaddai konnte Joshua augenblicklich alles über alles wissen, die in einen Vorfall verwickelt waren. Nach dem Gottesdienst bat er Samuel, in einen Wagen des Bistums für den ganzen nächsten Tag zur Verfügung zu stellen. Joshua musste ein verlorenes Schaf finden und zurück zur Herde bringen.

Der Wagen wurde ihm vor dem Sonnenaufgang gebracht. Joshua bat Yiacoub, die Pferde zu führen, und Petros und Yiohannan, ihn zu begleiten.

Akhiezer, ein israelitischer Tischler aus Tyrus, dreiundvierzig Jahre alt und verwitwet, war von Tyrus nach Khorazin gereist. Jonathan, der Neffe seiner verstorbenen Frau, und sein siebzehnjähriger Sohn Khur hatten ihn auf Pferden reitend begleitet. Akhiezer fuhr einen zweirädrigen Wagen. Er war gekommen, um von seinen Schuldnern Geld einzuziehen, wenn nötig mit Gewalt.

Vor dem Tode seiner Frau Ruth war Akhiezer ein gutmütiger Mensch und ein erfolgreicher Tischler gewesen. Jonathan war zehn Jahre alt, als seine Mutter, die Schwester von Ruth, verstarb. Akhiezer hatte ihn als Lehrling zu sich genommen. Er besaß ein großes Haus in einem schönen Garten und liebte seine Frau und seinen Sohn. Doch Ruth verstarb, als Khur zehn Jahre alt war und Jonathan fünfzehn. Nach dem Tode seiner Frau wurde Akhiezer nervös, gereizt und oft gewalttätig, jedoch nie gegen Khur und Jonathan. Dieser anständige Mann wurde brutal und ungerecht. Aus ihm wurde ein Faulpelz, ein Trinker und Spieler, der oft Freudenhäuser besuchte, wo er sich streitsüchtig und lasterhaft aufführte. In seiner Verzweiflung hatte er begonnen, Alaha zu verfluchen.

Ein Griechisch-Römer war in Tyrus mit einer seltsamen Bitte zu Akhiezer gekommen. Sein vierjähriger Sohn war gestorben. Seine Frau war unfruchtbar und deshalb außer sich in ihrer Trauer. Sie phantasierte, ihr Kind sei entführt worden, und sie flehte ihren Ehemann an, ihn wieder zu finden. Der Ehemann befürchtete, dass seine Frau psychisch krank würde, und hatte seinen Freund Akhiezer gebeten, einen Sklavenjungen zu finden und zu kaufen, der seinen verlorenen Sohn ersetzen könnte.

In Khorazin sah Akhiezer ein spielendes Kind beim Tor eines Gemüsegartens. Es hatte eine frappante Ähnlichkeit mit dem Sohn seines Freundes. Der Junge hieß Benjamin und war der Sohn Rakhels, einer jungen israelitischen Witwe, die im Garten eines Mannes von Khorazin arbeitete. Der Junge und seine Mutter lebten dort in einer kleinen, einräumigen Hütte. (S.81)

Es war die Entführung Benjamins und deren Folgen, die Joshua im fünf Meilen entfernten Tempel in K’far Nahum gesehen hatte.

Als der Wagen mit Joshua, Yiacoub, Petros und Yiohannan sich Khorazin näherte, kam er, eine Meile vor der Stadt, zu einem Weg, einer Sackgasse, die zu felsigen Höhlen führte, die hinter Bäumen und Büschen versteckt lagen. Ein junger Mann kam zu Pferd aus diesem Weg und rief ihnen ängstlich zu: „Rabbi, nach Khorazin führt die Straße geradeaus. Dieser Weg ist nur für Holzfäller und endet im Wald“.

Joshua sagte zu ihm: „Jonathan, zweihundert Yards von hier entfernt, unter jenen großen Platanen liegt dein Vetter Khur bewusstlos auf einer Wolldecke, schwer verwundet. Akhiezer und Benjamin warten in einer Höhle auf dich. Du bist unterwegs, um einen Arzt für Khur zu finden. Doch das ist nutzlos, Jonathan, Khur liegt im Sterben. Wir gehen jetzt zu Akhiezer. Komm mit uns. Wir brauchen dich.“

Dann erzählte Joshua, was Khur zugestoßen war: „Als ihr gestern in der Dunkelheit zu Pferd von Khorazin kamt, geschah es, etwa hundert Yards vor der Höhle, dass eine Schlange aus den Büschen kroch und Khurs Pferd erschreckte. Das Pferd warf Khur ab, er fiel kopfüber auf eine Felsen, seine Rippen und sein rechter Oberschenkelknochen sind gebrochen.“

Jonathan vergaß seinen Mund zu schließen und starrte Joshua von Schrecken ergriffen an. „Rabbi“, sagte er ehrfurchtsvoll, „wie kannst du meinen Namen wissen? Wie kannst du Akhiezer und Khur kennen, die hier fremd sind? Und wie kannst du wissen, was letzte Nacht hier vorgefallen ist?“

Joshua antwortete nicht. Er stieg mit Yiohannan vom Wagen und bat Yiacoub und Petros zur ersten Herberge an der Straße nach Khorazin zu gehen und dort auf sie zu warten. Als der Wagen weg war, sagte er: „Lieber Jonathan, begleite uns. Wir brauchen dich.“ Jonathan stieg vom Pferd und folgte ihnen.

Unter einer Platane beim Eingang zur Höhle lag Khur bewusstlos auf einer dicken, gelben Wolldecke. Sie war mit seinem Blut getränkt. Das Haar auf der rechten Seite seines Kopfes war steif vom getrockneten Blut aus einer tiefen Wunde. Seine rechte Wange war blutunterlaufen und verletzt und die Lippen waren aufgeschwollen. Auf der rechten Seite hatte er zwei gebrochene Rippen und einen Oberschenkelbruch. Akhiezer hatte die lange Nacht an der Seite seines Jungen verbracht, der vor Schmerzen stöhnte und schrie. Seit Sonnenaufgang war Khur in ein Koma gefallen. Benjamin hatte die Nacht mit Jonathan in der Höhle verbracht, ohne zu schlafen. Er hatte geweint und geweint und nach seiner Mutter gerufen, was Akhiezers Verzweiflung nur noch vertiefte.

Joshua ging zu Akhiezer, legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und sagte: „Geliebter Akhiezer, Shalom. Mein Liebster, warum hast du deinen Vater Alaha vergessen? Du warst ein guter Mensch und Alaha hat dir alles gegeben, was du nötig hattest. Als Alaha deine Frau Ruth zu sich genommen hatte, hast du dich verändert und du hast Alaha vergessen, doch Alaha hat dich nicht vergessen. Du hast schwer gesündigt, du hast gegen den Willen Alahas gehandelt. Warum? Akhiezer, warum?“

In seiner Verzweiflung heulte Akhiezer und sagte: „Erbarmungsloser Rabbi, Khur mein einziger Sohn liegt im Sterben. Ich weiß, dass ich ein  elender Sünder bin. Musst du jetzt auch noch meine Wunden öffnen? Habe Erbarmen! Ich habe keine Tränen mehr zu vergießen und meine Schmerzen sind unerträglich. Alaha hasst mich.“

Joshua umarmte den Mann und sagte: „Geliebter, Alaha liebt dich. Ich weiß, wie groß deine Schmerzen sind. Es sind auch meine Schmerzen. Denn du und ich sind in meiner El Shaddai Selbstheit eins. Lieber Akhiezer, deine Tränen haben deine Sünden weggewaschen. Und ich bin gekommen, dir deinen Sohn Khur ganz, stark und gesund zurückzugeben. Du wirst mir und Alaha als Gegenleistung Khur, Jonathan und dich selbst schenken, nicht als drei Kriminelle, sondern als drei Alaha liebende Männer und, sollte es dein Wunsch sein, als drei gute Tischler.“

Joshua bat Jonathan, der ihn mit einer Mischung von Ehrfurcht und Angst anstarrte, ihm einige Streifen sauberen Tuchs und einen Eimer mit frischem Wasser von der Quelle neben der Platane zu bringen.

Joshua kniete neben Khur und betete zu Alaha. Er wusch das getrocknete Blut mit weichem Leinen vom Kopf des Jungen. Nachdem die Wunden gereinigt und die Knochen geheilt waren, nahm er die rechte Hand von Khur und sprach ihn an: „Khur, mein Kind, wache auf.“ Khur öffnete seine Augen und schaute in Joshuas lächelndes Gesicht. Joshua sagte zu ihm: „Mein Lieber, steh auf. Nimm dieses Stück Stoff, gehe zu deinem Vater und trockne seine Tränen.“ (S.82)

Joshua sah Akhiezer liebevoll an und sagte: „Lieber Akhiezer, umarme deinen Sohn und küsse ihn. Er ist wiederum dein. Genieße diesen glücklichen Augenblick und danke dem höchst barmherzigen Alaha, unserem himmlischen Vater, der uns liebt.“

Benjamin erwachte aus unruhigem Schlaf, weinte und schrie nach seiner Mutter. Yiohannan trug das Kind aus der Höhle und spielte lachend mit ihm. Zwei Stunden später bat Akhiezer Jonathan das Pferd vor den Wagen zu spannen und sagte zu Joshua: „Verehrter junger Rabbi, du willst, dass ich Benjamin zu seiner Mutter zurückbringe. Doch als ich glaubte, Khur könnte sterben, wollte ich den Jungen für mich als meinen Sohn behalten. Braucht er nicht einen Vater?“

Joshua unterbrach ihn: „Und was ist mit seiner Mutter, Akhiezer? Du hast große Verzweiflung über seine Mutter Rakhel gebracht. Benjamin ist ihre einzige Freude im Leben.“ Akhiezer fragte: „Kennst du diese Frau? Diese Rakhel?“ „Natürlich kenne ich sie, mein Lieber“, sagte Joshua, „obwohl ich sie nie mit meinen materiellen Augen gesehen habe. Auch Rakhel ist in meiner El Shaddai Selbstheit. Ich kann sie jetzt sehen, obwohl sie weit von uns entfernt ist. Sie ist eine sehr schöne junge Frau. Ich weiß, dass du das, was ich dir jetzt erzähle, nicht verstehen kannst, Akhiezer. Die materiellen Augen sind nicht die einzigen Augen zum Sehen.“

Jonathan schaute Joshua verwirrt an: „Rabbi“, sagte er, „wer bist du? Du sagtest mir, dass niemand Khur retten könne, doch Khur lebt, er ist gesund und stark. Von den schrecklichen Wunden ist keine Spur zu sehen. Wer bist du?“

„Mein Lieber“, es soll genügen zu wissen, dass ich der Eine bin, der dich sehr liebt.“

Yiohannan flüsterte in Jonathans Ohr: „Jonathan, Joshua ist nicht nur ein Mensch wie du. Er ist der Beni Alaha. Verstehst du?“ Jonathan aber konnte es nicht verstehen. Es verwirrte und beängstigte ihn nur noch mehr.

Als der Wagen bereit war, sagte Akhiezer zu Khur, er solle mit Benjamin aufsteigen. Khur hielt das Kind in seinen Armen im Wagen und Akhiezer saß vorn. Jonathan ging zu Fuß und hielt die Zügel. Joshua und Yiohannan ritten auf den Pferden und folgten ihnen. Es dauerte keine Stunde bis sie am Tor des Gemüsegartens ankamen, wo Rakhel wohnte. Sie war in ihrer Hütte und weinte erbärmlich.

Joshua hielt Benjamin in seinen Armen, öffnete das Tor und rief sie. Rakhel nahm ihm das Kind ab, drückte es an ihr Herz und küsste es immer wieder. Die Tränen des Leids verwandelten sich in Tränen der Freude.

Rakhel trug Benjamin in die Hütte und Joshua wandte sich an Akhiezer: „Mein Lieber Akhiezer“, sagte der Gott-Mensch lächelnd, „du hast recht, Benjamin braucht einen Vater und Rakhel braucht einen Ehemann und Vater für ihren Sohn. Und du, mein lieber Akhiezer, brauchst eine Frau. Jene verrufenen Freudenhäuser sind nicht für dich. Rakhel ist eine schöne Frau, ehrlich und gut. Sie wird deinem Haus zur Ehre gereichen.“

Akhiezer sah Khur lächelnd an. „Du hast recht, geliebter Rabbi, lasst uns hören, was Khur dazu sagt.“ Lachend ging Khur in die Hütte und kam mit Benjamin in den Armen zurück: „Verehrter Rabbi“, sagte er zu Joshua, „könntest du Rakhel für mich fragen, ob ich sie Mutter nennen darf? Sag ihr, dass ich Benjamin wie ein Bruder liebe und dass ich auch sie wahrhaftig wie meine Mutter lieben werde. Benjamin braucht einen Vater und ich brauche eine Mutter.“

Joshua tat, was der Junge ihn gebeten hatte, und ein paar Minuten später kam der Gott-Mensch mit Rakhel zurück. Joshua gab ihre rechte Hand Akhiezer, der sie in seine beiden Hände nahm und sagte: „Rakhel, für den Kummer, den ich diese Nacht über dich gebracht habe, will ich dich und Benjamin entschädigen. Ich werde alles tun, um euch ein glückliches Leben zu bieten.“ Akhiezer küsste sie und bat Khur und Jonathan sie ebenfalls zu küssen, als ihre Mutter. Dann nahm Akhiezer Benjamin in seine Arme und sagte: „Geliebter kleiner Engel. Du bist kein Waise mehr. Du bist mein Sohn. Ich bin dein Vater. Khur und Jonathan sind deine Brüder.“

Joshua legte eine Hand auf Rakhels Kopf und die andere auf Akhiezers und segnete sie und ihren Ehebund. Er küsste alle liebevoll und verließ mit Yiohannan die glückliche Familie.

In der Herberge warteten Petros und Yiacoub auf sie. Die Herberge war nur ein kleines Haus und die anderen Gäste waren arme Arbeiter. Der Gastwirt war ein Mann mittleren Alters, der dort mit seiner Tochter lebte. Vor zehn Jahren hatte ihn seine Frau verlassen, nachdem er sich in einem Unfall eine Lähmung zugezogen hatte. Sein linkes Bein verkümmerte und war nun einen Zoll kürzer als das rechte.

Als Joshua und Yiohannan zur Tür hereinkamen, wies der Gastwirt seine Tochter an, sie solle die Gäste bedienen, während er seine Krücken suchte. Joshua ging zu ihm und sagte: „Mein lieber Barrukh, gib mir deine Hand. Du brauchst deine Krücken nicht mehr.“ Joshua ergriff seine rechte Hand und sagte ihm: „Barrukh, steh auf! Du kannst jetzt gehen. Hilf deiner Tochter, die Gäste zu bedienen.“ Der Mann stand auf, verblüfft und ängstlich, doch von Freude erfüllt. Seine Beine waren beide wieder gesund, stark und gleich lang. Er konnte wieder gehen. Er konnte springen. Er konnte tanzen. Er half seiner Tochter beim Auftragen der einfachen Mahlzeit, welche die Herberge anbot: Oliven und Käse, einige hart gesottene Eier, Gemüse und Brot. Joshua bat Yiacoub die Mahlzeit zu bezahlen, doch Barrukh bestand darauf, dass sie ihm nichts schuldig seien. Als sie gingen, ließ Yiacoub das Geld jedoch auf dem Tisch.

Auf der Rückreise nach K’far Nahum baten Petros und Yiacoub Joshua ihnen zu erzählen, was in Khotzin geschehen war. Joshua sagte: „Erinnert ihr euch an das Gleichnis über das verlorene Schaf, das ich vor einigen Tagen vortrug. Wenn ein Mann hundert Schafe hat und eines von ihnen geht verloren, verlässt er dann nicht die neunundneunzig gehorsamen in der Herde und geht in die Berge, um das eine, das verloren ging, zu suchen? Und wenn er es findet und es in die Herde zurückbringt, hat er dann nicht mehr Freude an dem einen Schaf, das er gefunden hat, als an den neunundneunzig, die nicht verloren gingen? Yiohannan wird euch erklären, was wir getan haben.“

Eine Stunde vor dem Sonnenuntergang kamen die Reisenden in K’far Nahum an. Sie gingen in den Tempel, wo Joshua Alaha für seine grenzenlose Barmherzigkeit und Liebe für die ganze Menschheit dankte.