Hans Henzi: „Ich fühle mich vom Leben reich beschenkt, hatte ich doch die Gnade zwei grossen Eingeweihten in meinem Leben zu begegnen.
Mit 28 Jahren war es Dr. Rudolf Steiner und mit 94 Jahren traf ich Dr. Stylianos Atteshlis (Daskalos). Herzogenbuchsee 1990
Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift „Gegenwart“ 23. Jahrgang Nr.2 im Mai 1961
Meine Begegnung mit Rudolf Steiner
Hans Henzi* 1895 – 1991 ehemaliger Sekundarlehrer in Herzogenbuchsee (*war mein Pflegevater ad)
Wiedergabe eines Beitrages zur Feier seines 100. Geburtstages in der Freien Pädagogischen Vereinigung in Bern am 25. Februar 1961
Wie zu einem Hochgipfel aufsteigend, versuchen in diesem Jahr zahlreiche Wanderer Ausblicke und Einblicke zu schildern in die unermessliche Weite und Tiefe, die sich einem eröffnen können beim Beschreiten der Pfade, die uns Rudolf Steiner gewiesen hat. Mein Beitrag zur Gedenkfeier soll jedoch nach dem Wunsche der Veranstalter darin bestehen, aus meiner Erinnerung rückblickend einige Streiflichtbilder zu projizieren von meinen Begegnungen mit dem Gefeierten.
Dieselben erfolgten bei fünf Gelegenheiten:
Erstmals am pädagogischen Kurs für Lehrer, erteilt am Goetheanum in Dornach, Mitte April 1923. Dann ein Jahr später an der Erziehungstagung der Freien Waldorfschule in Stuttgart und unmittelbar anschliessend am Kursus über anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen im Grossratssaal in Bern. Weiter beim letzten Vortrag vor den Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft an Michaeli 1924, nachdem Rudolf Steiner eine Woche vorher meine Mitgliederkarte unterzeichnet hatte, und schliesslich an seinem Totenbett im Atelier am 31. März 1925.
Durch Zeitungsberichte über den Brand des Goetheanums, in der Silvesternacht 1922/23 war in meinem 28. Lebensjahr Dornach in besonderer Weise in mein Blickfeld gerückt worden, eine historisch und landschaftlich interessante Gegend, die ich noch nicht betreten hatte. Die Meinung, Angenehmes mit Lehrreichem verbinden zu können, bewog einen Kollegen und mich, uns vorsichtig für den halben dortigen Lehrerkurs während der Frühlingsferien anzumelden.
In der Kursfreien Zeit gedachten wir zu wandern. Mit dem Programm war uns von den Berner Kollegen ein veröffentlichter Bericht Albert Steffens über den vorjährigen Lehrerkurs zugestellt worden.
Mit wachsendem Erstaunen hatte ich ihn gelesen und war u.a. recht besinnlich verweilt bei dem Satze <Wer in der Jugend betet, der kann im Alter segnen>.
Wenig berührt von der tragischen Zerstörung eines uns fremden und vorher nicht gesehenen Kunstwerkes, ermassen wir Neulinge in keiner Weise den tiefen Schmerz und das mutvolle Verhalten Rudolf Steiners und seiner Mitarbeiter, als wir uns neben der Brandstätte im Vortragssaal der Schreinerei einfanden.
Doktor Steiner gab keine gefühlsbetonte Einleitung, sondern sprach unverzüglich zum Tagungsthema, in dem er an eine vorgelesene Stelle aus Tagore, dem damals vielgenannten indischen Lehrer, anknüpfte. Im weiteren Verlauf des Kurses stiess sich mein Kollege bald mehr als ich an Äusserlichkeiten. Die mir angenehme, auftauende Wärme des Saales empfand ich als magisch. Haltung und Benehmen des Vortragenden, der seinen Kopf wie schwebend trug, fragenden Damen sein Ohr neigte, ohne sie anzusehen, und seine eigene Frau unabänderlich Frau Doktor Steiner nannte, schienen ihm übertrieben vornehm und der Beginn der Rede mit geschlossenen Augen ein spukiges Gebaren.
Anderseits fand er den alten Herrn unbegreiflich freundlich und entgegenkommend gegenüber einem schwätzigen jugendlichen Diskussionsredner, der sich immer wieder zum Wort meldete. Aussehen und Gehaben einiger Ausländischer Jünger und der werbende Eifer verschiedener inländischen Kollegen berührten ihn so ungemütlich, dass er mitten im Kurs abreiste.
Es gab eben um Rudolf Steiner herum viele Steine des Anstosses für einen normalisierten Schweizer Bürger. Dem bezopften Vreneli treue Hirtenknaben verpönten zum Beispiel damals noch am Goetheanum stark vertretene Bubikopf-Frisur. Einem Arbeiter, der diese seltsame Mode unter den Anthroposophinnen kritisch anmerkte, soll Rudolf Steiner geantwortet haben: „Ja, wissen Sie, die kriegen eben dann Haar an den Zähnen.“
In einem Abendvortrag zur Einführung in die Anthroposophie sagte er, er möchte, was er vertrete, jeden Tag anders benennen, damit die Leute nicht an einer Etikette kleben bleiben. Ferner gab er eine interessante Konzentration Übung, um uns im beweglichen polarischen Denken zu üben: Er malte auf der Tafel einen roten Farbkreis, umgeben von einem grünen Ring, und daneben die komplementäre Figur als grüner Kreis mit rotem Ring, und empfahl uns sodann, uns die eine Figur intensiv vorzustellen und ihr Gedankenbild hin und her in die Nachbarfigur zu verwandeln durch Zusammenziehen des Ringes und Ausdehnung der Kreisfläche.
Dank dem schlechten Wetter hatte ich mich an die Literatur herangemacht und mich besonders hineingelesen in die von Dr. Rittelmeyer herausgegebene Sammlung von Denkschriften zum 60. Geburtstag Rudolf Steiners, betitelt „Vom Lebenswerk Rudolf Steiners, eine Hoffnung neuer Kultur“. Die dargelegten Probleme und Ausblicke ergriffen mich bald zutiefst, brachten mich zugleich in arge Seelennot durch Zweifel an dem gewiesenen Weg.
Um ins klare zu kommen, fasste ich mir nach der Abreise meines Gefährten in einer morgendlichen Aussprachestunde ein Herz, als der Diskussionsleiter wünschte, es möchte sich doch jemand äussern, der zum ersten Mal hier sei. Ich meldete mich als einer, der sich noch als Zaungast betrachte und dem es scheine, dass unter uns Neulingen einerseits Menschen seien, die bisher in einem Schacht verschüttet und von Kameraden befreit und plötzlich wie geblendet ins Licht treten. Man möge solchen Zeit lassen, sich zurechtzufinden, bevor man von ihnen Mitarbeit erwarte.
Andere seien der Meinung, bereits den rechten Weg zu kennen und dank der Landkarte, die sie wohl immer besser lesen lernen möchten, von der aber hier bisher nicht gesprochen worden sei, ich meine damit die Bibel.
Was Dr. Steiner am Vorabend erklärend über die geschnitzte Figur im Atelier gesagt, sei mir zum Sinnbild für das hier Erlebte geworden; ich sehe nämlich oben wohl ein ideales Gesicht, aber unten, wo das Werk auf der Erde stehen sollte, sei es nicht fertig.
Ohne allzu sehr sofortigen Mitgliederzuwachs anzustreben, möge man es in Dornach doch als schönes Ergebnis des Kurses werten, wenn zwischen der feindlichen Umwelt und dem Goetheanum nun ein Ring von Menschen entstehe, die bereit seien, sachlich zu prüfen. Mein Führer müsse allerdings dabei derjenige sein, der allen sagen könne: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“.
Bevor sich eine entrüstete Stimme melden konnte, wie es dann nachher geschah, sprang der ausnahmsweise anwesende Dr. Steiner lebhaft auf und rief: „Auf die freundlichen Worte dieses Herrn will ich selbst antworten.“ Sich nähernd fuhr er fort: „Was Sie von der Blendung sagten, stimmt leider und kommt daher, dass wir in acht Tagen zusammendrängen mussten, was zur Verarbeitung mindestens ein Jahr braucht; auf eine grössere Fläche verteilt, wird dieses Licht aber nicht mehr blenden.
Wenn bisher nicht ausdrücklich von Religiösem die Rede war, so mögen Sie bedenken, dass es aus dem Grunde geschehen sein kann, weil das Gebot ernst genommen wird: Du sollst den Namen deines Gottes nicht eitel brauchen. Auch jenes Wort ist zu bedenken: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeit. (Das ist nämlich die genaue Übersetzung.)
Im Übrigen werde ich im anschliessenden Vortrag über den Religionsunterricht sprechen und erachte es nun für richtig, wenn dasjenige, was wie ein Opferstock aussieht, sich nun entfernt und Sie unter sich über die Angelegenheit des Schulvereins weiter verhandeln. Ich denke dabei allerdings weniger Ihr finanzielles Opfer als an das moralische Opfer Ihrer Zunge.“
Damit verliess er den Raum und hielt eine halbe Stunde später einen Vortrag, worin er den Apostel Paulus als Muster eines Religionslehrers mit solcher Tiefe und Wärme darstellte, dass die Zuhörer nachher in wortloser Ergriffenheit den Saal verliessen. Er hatte erläutert, warum Paulus nach dem Damaskus-Erlebnis sich äussern durfte, dass Christus in ihm rede.
Ein Jahr darauf herrschte im grössten Vortragssaal Stuttgarts begeisterte Hosianna-Stimmung unter den zweitausend Zuhörern Rudolf Steiners. Durch anhaltenden Beifall wurde der Redner nach dem Vortrag immer wieder auf die Bühne gerufen, wo er mit beiden Handrücken winkend grüsste.
Folgende Episode blieb mir besonders im Gedächtnis: Die Jugendsektion der Anthroposophischen Gesellschaft hatte andere Jugendgruppen zu einer Aussprache über Kulturziele eingeladen. Der Waldorflehrer Max Lehrs leitete sie. Die Jungen sprachen vom Wandern, Singen, Märchenerzählen, Gartenbau und Siedeln. Was sie vorbrachten, tönte eigentlich eher müde und resigniert und befriedigte wenig. Da wurde Rudolf Steiner gebeten, sich auch zu äussern. Er hatte bei den Zuhörern im Saal Platz genommen. Nun kletterte der Dreiundsechzigjährige über einen Stuhl auf die Bühne und meinte humorvoll, er sei ja auch einmal jung gewesen und habe mit seinen Kameraden die Welt nicht in Ordnung und verbesserungsbedürftig gefunden. Um die Philister zu ärgern, hätten sie ihren Stammtisch den Verbrechertisch genannt.
Da sei einer ein ideal gesinnter Jüngling gewesen, der später mit der Welt so wenig zurechtgekommen sei, dass er sich leider das Leben genommen. Einen anderen habe er nach Jahren als wohlbestallten Bürgermeister bei der Einweihung eines Denkmals sprechen hören und sich verwundert, wie er dies nun genau in den seinerzeit verlachten Phrasen und Formen der alten Generation getan.
Er, Rudolf Steiner, habe versucht, etwas Neues als Kunstwerk in die Welt zu stellen. Das habe aber den Leuten so wenig gepasst, dass man es angezündet habe. –
Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte nun Alt und Jung seinen weiteren Ausführungen, und am Schluss stellten sich junge Leute mit Papierkörben an die Ausgänge, um die reichlich flatternden Geldscheine für eine Erweiterung der Waldorfschule in Empfang zu nehmen.
In Bern empfand man die geistige Atmosphäre als wesentlich schwerer. Die eigene Schwerblütigkeit und Verholztheit konnte einem bedrückend zum Bewusstsein kommen.
Ein besonderes Erlebnis brachte mir wieder die Fragestunde. Ein Jahr zuvor hatte Albert Steffen bei gleicher Gelegenheit, durch unser verhalten veranlasst, den Satz geprägt:“ Der Schweizer schweigt“, und Rudolf Steiner hatte am nächsten Morgen vom moralischen Opfer der Zunge gesprochen. In der Meinung, eine Aussprache rascher in Gang zu bringen, hatte ich nun auf einzelne Zettel verschiedene Fragen notiert und brachte sie zu den bereits auf dem Vortragspult liegenden. Rudolf Steiner fragte mich, ob ich sie nicht gleich selber vorbringen wolle. Ich zog mich aber schüchtern ablehnend zurück und wurde mir meiner ungeschickten Unhöflichkeit und Feigheit mit Schrecken bewusst, als er nun seinen Zwicker aufsetzte und die Fragen nicht in seiner üblichen Vortragsstimme, sondern mit einer Lautstärke vorlas, wie ich sie in der Schulstube auch aufbringe. –
Eine dieser Fragen lautete, ob auch eine bestimmte ästhetische Form des Schulmobiliars erzieherisch wichtig sei, Rudolf Steiner meinte, da müsse man zunächst berücksichtigen, dass man sich ja nicht mit dem Auge auf die Schulbank setze und man sich für die Gestaltung vom Hygienischen und Funktionellen leiten lassen müsse.
Eine andere Frage betraf die Schriftrichtung und lautete, warum die Chinesen von oben nach unten, die Semiten von rechts nach links und wir von links nach rechts schreiben, und ob es pädagogisch einen Wert habe, wenn die Kinder Spiegelschrift schreiben. Letzteres hatten wir nämlich als Zwölf- bis Fünfzehnjährige als Sport betrieben, und zudem hatte ich eine seltsame Aussage Rudolf Steiners über die Spiegelschrift in der Nachschrift eines Vortrages für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gelesen, die ich vertraulich erhalten hatte,-
Rudolf Steiner antwortete, dass der erste Teil der Frage zwar sehr interessant sei, dass aber die verfügbare Zeit keine eingehende Erklärung erlaube, er wolle nur sagen, dass die Chinesen eben stark in den Kräften gelebt hätten, die den Menschen von oben nach unten führen. Aus welcher Lebensecke heraus jedoch das Schreiben der Spiegelschrift von Wert sei, sei ihm nicht erfindlich. Dabei schaute er mich forschend an, und ich dachte: Aha, jetzt rückst du nicht offen mit der Sprache heraus. Im gleichen Moment fuhr er weiter: „Nun, ich will ganz frei herausreden; es ist ja schon so, dass, wenn man sich über einen geschriebenen Text mit der geistigen Welt verständigen will, derselbe dann wie durchscheinend von der andern Seite, also in Spiegelschrift erscheint“, und verdeutlichend, schritt er, mein Notitzblatt hochhaltend und wendend, gegen das Fenster. Damit gab er für das Publikum eine verwunderliche, für mich aber entscheidende Antwort.-
Die Folge war, dass ich je in einer Sektion des bernischen und des Evangelischen Schulvereins in gewünschten Referaten meine bejahende Einstellung zur Anthroposophie bekannte und mich als Mitglied der Gesellschaft anmeldete.
Der Berner Kurs wirkte auch dadurch in besonderer Weise in meinem Leben weiter, dass mein Vater (Pfarrer in Hasle bei Burgdorf), trotz den gehäuften Pflichten der Osterwoche, einen einzelnen und sein Kollege aus dem oberen Emmental, Pfarrer Fritz Eymann, der spätere Teologieprofessor, zwei Vorträge Rudolf Steiners mitanhörten.
Das letzte Erinnerungsbild lässt sich kaum mit Worten wiedergeben. Das umflorte Auge sieht die vier Bretterwände des Ateliers mit Oberlicht und auf dem einfachen Bett die ergreifend abgezehrte Gestalt mit dem friedvoll vergeistigten Gesicht, zu Füssen einen Leuchter mit sieben brennenden Kerzen und die von Rudolf Steiner geschnitzte hochragende Christus-Gestalt; noch fehlen die Kränze, und die Armut dieser Behausung, wo Rudolf Steiner ein halbes Jahr krank gelegen, bringt mir erschütternd das irdische Opferdasein des Verblichenen und unsre waisenhafte Verlassenheit zum Bewusstsein.
Und doch konnten wir nicht trauern wie solche, die keine Hoffnung haben. Wir erfuhren den weiterwirkenden Segen dieses Lebenswerkes und fühlten uns verpflichtet, es in Dankbarkeit und Ehrfurcht zu pflegen, damit auch die neue Generation seiner teilhaftig werden kann.
*) Unter Anthroposophie verstehe ich die wissenschaftliche Erforschung der „geistigen Welt“, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Naturwissenschaft (Erkennen des Äußeren) ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik (Erkennen des Inneren) überwindet, und die, bevor sie den Versuch macht, in die „übersinnliche Welt“ einzudringen, dazu in der erkennenden Seele Fähigkeiten entwickelt, um ein solches Eindringen erst zu ermöglichen.
Rudolf Steiner